Melchiorre Pietranera, Ohne Tränenschleier, Gedichte

 

 

Dieser Gedichtband ist die natürliche Fortsetzung meines Essays über denselben Künstler, das auf seine Beziehung zur Kunst, insbesondere zur Malerei und Poesie, fokussiert (vgl. Silvana Fioresi, Melchiorre Pietranera. Parole in pittura, immagini in poesia, ProMosaik LAPH 2021).

Die Ausdrucksformen der Kunst und der Poesie stehen im Werk von Pietranera in einer sehr engen, unauflöslichen Beziehung. Pietranera geht mit äußerster Geschicklichkeit von einer zur anderen über. Und so lässt er uns voller Erstaunen angesichts der Magie seiner Kunst zurück. Den Lesern seiner Gedichte erscheinen seine Bilder. Und wenn die Leser auf seine Bilder blicken, scheint es, als würden sie in ihren Gedanken seine Lyrik lesen.

Bei der Zusammenstellung dieses Lyrikbandes musste ich so meine Abstriche machen. Die Wahl fiel mir nicht leicht.

Es ist nie einfach, Entscheidungen zu treffen, insbesondere bei einer so großen Fülle an Material. Denn Melchiorre verfasste sein Leben lang unzählige Verse. Er schrieb sie entweder in Schönschrift nieder oder kritzelte sie auf lose Blätter. Oft trug er sie in die ärztlichen Rezeptblöcke ein, die er immer bei sich hatte. Denn er war Arzt von Beruf.

Das Leitmotiv seiner Lyrik sind Themen wie Naturgewalt, Lebenslust und die ständige Beobachtung der menschlichen Seele in all ihren Facetten. Dabei unterstützte ihn vor allem sein Beruf als Arzt, der ihn mit dem Leid, dem Tod und dem menschlichen Elend konfrontierte.

Auf eines dieser losen Blätter, die nach seinem Tod gefunden wurden, hatte Pietranera folgende Worte geschrieben:

 

Die Fantasie ist auch ein Mythos. Der Mythos ist ein dauernder Begleiter des Menschen in allem, was er glaubt und träumt.

Und ich entschied mich für die Mythen meiner Region: für den Po, die Poebene, die „Tiefebene“, die Hügel und die Berge, oft für intime Bilder aus der häuslichen Umgebung; für die Menschen, unsere emilianische Kultur, unsere katholische Religion, unsere Geschichte und die ihnen vorausgegangenen prähistorischen Mythen und damit gleichzeitig für die Idole. Ich habe den Versuch unternommen, Ereignisse der zeitge-nössischen Geschichte auszulegen: den Krieg in Afrika, den 8. Sep-tember und Hiroshima. Hier verwandelte sich der Mensch in eine gegen eine Mauer verbrannte Made.

Und es kamen andere Mythen wie Jugend, Schönheit, Kinder, Frauen, Sportler und Sieger dazu.

Und die klassischen Mythen wie der von Daphne. Und die Evangelien: die Flucht nach Ägypten und Golgota (Dieser Begriff bedeutet in seiner wörtlichen Übersetzung „Ort des Schädels“).

Und die Legende wie die des Heiligen Martin. Und der aktuelle Kampf des Heiligen Georg, denn der Mensch hat mit neuen, unbekannten Mythen zu kämpfen.

 

Und auf einem anderen losen Blatt von Melchiorre heißt es:

 

Aus der informellen Natur der Materie, aus dem Chaos, aus der Zersetzung der Dinge und aus ihrer Verweigerung kann eine Idee entstehen. Es kann ein Zeichen entstehen, das die ausbrechende Energie in sich birgt, die in der neuen Schöpfungskraft ihre neue Gestaltungs-form finden wird.

Am Ende allen Chaos sucht die Materie nach sich selbst, gestaltet sich neu und nimmt in ihrer unerschöpflichen Fantasie neue konkrete förmliche Aspekte und innovative Bilder an.

Wie neue Erscheinungen.

Und die Materie befindet sich in einem Vakuum, mit dem sie in einem abwechselnden Austausch steht.

Gleichermaßen ist das Licht im Dunkeln vorhanden und für die Dunkelheit da, mit der es sich abwechselt.

Vielleicht gibt es das Chaos gar nicht. Vielleicht ist es nichts anderes als eine Wehe, als die Geburt des Universums, als eine wundervolle neugeborene Kreatur.

 

Melchiorre Pietranera bleibt aber nichtsdestotrotz stets ein positiver Mensch. Und diese optimistische Lebensein-stellung ist ansteckend, denn auch in den Augenblicken der größten Verzweiflung stirbt die Hoffnung für ihn zuletzt.

Allen, die ihm sagen, das traditionelle, seit Jahrhunderten währende Kunstverständnis sei dem Untergang geweiht, er-widert Pietranera entschieden:

 

(…) Ich fühle mich nicht wie ein Arzt am Bett eines Sterbenden. Und ich sehe mich auch nicht als nekrophil. Wer sagt, dass auf dem Weg der Großen nicht jeder Einzelne das Wort ergreifen darf? Natürlich ist dem so. Und an dieser Stelle müssen auch die zeitgenössischen Erfahrungen ihrem Platz finden.

War Vasari nicht stolz auf die toskanische „Moderne“? Aber das Ganze war damals noch lange nicht zu Ende.

Es geht darum, uns sowohl vom Einfluss der Kunstkritiker als auch von dem der anderen Künstler loszusagen.

Was wir brauchen sind Klarheit und eine urteilsfähige Persönlichkeit.

 

Aber wer ist Melchiorre Pietranera, dieser diskrete und stille Künstler aus den Hügeln von Reggio? Er ist vor allem ein außerordentlich sensibler Mann, der diesem so wundervollem Einfühlungsvermögen mit dem Stift und Pinsel Ausdruck verleiht. Diese Sensibilität ruft in ihm ein überschwängliches Leid und eine übermäßige Erregung angesichts der einfachsten sowohl guten als auch schlechten Dinge hervor.

 

Denn Kunst bedeutet Sensibilität.

Kunst bedeutet Emotion.

Kunst bedeutet Freiheit.

 

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