Milena Rampoldi, Frau, Jihad und Imamat bei den Kharijiten

 

In diesem Essai geht es mir um die Analyse der muslimischen Sekte der Kharijiten, um aufzuzeigen, wie umfassend die sozio-politischen Rechte der Frau in dieser
Gruppe ausgelegt und gelebt wurden und wie schwer eine korrekte Auslegung dieser Gruppierung heute noch fällt, die einfach nur als Terrorsekte und sogar als Vorreiter des Islamischen Staates und von Boko Haram abgestempelt wird.

 

Dies kommt beispielsweise im Artikel von Hussein Muhammed Saleh Rahim sehr klar zum Ausdruck, der am Ende seiner Analyse der Verbindungen zwischen den
zeitgenössischen Extremistengruppen und den ersten Kharijiten dazu auffordert, die Studien in diese Richtung zu vertiefen, um nach noch mehr Analogien und ideologischen Berührungspunkten zu suchen. Er schreibt hier:

 

“Future research calls for studies to be carried out on all the contemporary extremist groups in order to reveal more on their hidden history, make comparisons with classic Kharijite and generate public awareness about con-temporary Kharijite‘s ideology.” Deutsche Übersetzung: „Es sind weitere Forschungsstudien über alle zeitgenössischen Extremistengruppen notwendig, um mehr über ihre verborgene Geschichte zu offenbaren, Vergleiche mit den klassischen Kharijiten zu erstellen und die öffentliche Wahrnehmung bezüglich der zeitgenössischen kharijitischen Ideologie zu erwecken“.

 

Diese forcierte Herstellung einer Verbindung zwischen den heutigen Jihadisten, unter anderem auch der Gruppe Bin Ladens, die sich an der kharajitischen Kampfpoesie
orientieren soll2, und den damaligen Khawarij wird auch von Carolyn Baugh in ihrem Artikel zu den ersten Kharijiten-Frauen in den islamischen Quellen betont, wenn sie
schreibt:

“Even today, any group engaged in governmental protest or anti-government activities might easily be dubbed Kharijites and thus dismissed as extremist.” Deutsche Übersetzung:
„Bis heute wird jegliche Gruppe, die sich einer Regierung widersetzt oder Tätigkeiten gegen eine Regierung ausübt, sehr leicht als kharijitische Bewegung abgestempelt und somit als extremistisch abgetan.“

 

Diese Vergleiche ignorieren auch vollkommen den neoimperialistischen und mit den Bodenschätzen verbundenen Kontext, in dem sich die zeitgenössischen Extremistengruppen wie der IS und Boko Haram bewegen.

Und über die Kharijiten-Frauen von damals und ihre Beschreibung in den arabischen Quellen kommentiert sie:

“The ways these deeply opinionated and activist women are depicted provide telling insight into how Muslim historiography has grappled with women revolutionaries.”

Deutsche Übersetzung:

„Die Art und Weise, auf die diese belesenen und dynamischen Frauen dargestellt werden, liefert eine ausdrucksvolle Einsicht in die Modalität, nach der
die muslimische Geschichtsschreibung mit weiblichen Revolutionärinnen umgegangen ist.“

 

Der Kharijismus bleibt mit Sicherheit historisch und soziopolitisch eine Randgruppe im Islam, die aber sehr wichtig ist, um sich heute mit dem Thema der Frauenrechte in der muslimischen Gesellschaft und Politik im weitesten Sinne auseinanderzusetzen.
Denn es gab, wie uns auch Azim Muhammad Shafiq al-Salihi in seiner Studie über die Poesie der Kharijiten bestätigt, in der muslimischen Frühgeschichte keine Gruppe, in der Frauen auf allen Ebenen so bedeutend waren wie bei den Kharijiten:

 

“Women had a special influence, and elevated dignity in Kharijite life, their military and political history, social conventions and in their literary traditions, as poetesses, jurists, warriors, leaders and even as Imams. On the contrary, non-Kharijite women in the Muslim community did not enjoy such exceptional freedom, nor did they have such a high status as the Kharijite women.”

Deutsche Übersetzung: „Die Frauen übten einen besonderen Einfluss aus. Sie hatten würdevolle Positionen im kharijitischen Leben, in der militärischen und politischen Geschichte, in den gesellschaftlichen Konventionen und in den literarischen Traditionen der Kharijiten inne, wie beispielsweise als Dichterinnen, Rechtsexpertinnen, Kämpferinnen, Anführerinnen und sogar als Imaminnen. Im Gegensatz dazu genossen nicht kharijitische Frauen in der muslimischen Gemeinde weder eine solche besondere Freiheit, noch erlangten sie einen so hohen Status wie die kharijitischen Frauen.“

 

Diese Passage sollte uns heute wirklich darüber nachdenken lassen, ob die direkte Verbindung zwischen jihadistischem Islam und Frauenfeindlichkeit auch wirklich so stimmt, denn sehr oft findet sich gerade in der sogenannten Bekämpfung des islamischen Extremismus im Westen noch mehr Frauenfeindlichkeit als sich paradoxerweise in den extremistischen Gruppierungen vorfinden lässt.

Der Kharijismus wird oft mit dem sogenannten fundamentalistischen Takfiri-Islam in Verbindung gebracht und aus dem Diskurs über die politische Gestaltung der koranischen Lehre ausgegrenzt. Er erscheint vielen als hart oder steif, was er natürlich auch ist, wenn man ihn rein militärisch betrachtet.
Wenn man die Kharijiten aber von der weiblichen Seite aus untersucht, gelangt man zu einem anderen Ergebnis, und zwar, dass die Kharijiten nicht in die falsche Richtung gegangen sind, sondern zu weit, indem sie sich das Urteil gegenüber den anderen Muslimen aneignen wollten, das nur Allah gebührt. Sie wollten Allahs Gerechtigkeit in der Welt antizipieren und begangen in ihrem Aktivismus den Fehler, Gewalt zu rechtfertigen, wo der Islam Gewalt ablehnt und verwirft.

 

Denn in Koran 5:32 heißt es so schön: „Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet“.
Die Kharijiten erscheinen nach Innen aber extrem demokratisch, fokussieren auf die Gleichwertigkeit der Geschlechter und bekämpfen, wenn auch mit harten und
militärischen Mitteln, die zu der Zeit, in der sie entstanden, den Alltag der Gesellschaft in der Region wesentlich bestimmten, jegliche Konzeption der Toleranz gegenüber
dem ungerechten Führer einer Dynastie, die sich anmaßt, nichts Feuchtes und nichts Trockenes, das nicht in einem deutlichen Buch (verzeichnet) wäre.“

 

Somit wäre das durch die Menschen gefällte Urteil, somit auch das Takfir-Urteil, laut Koran eine Beschleunigung dessen, zu dem nur Allah den Zugang hat, und zwar zum
Verborgenen.

 

Die Kharijiten setzen sich einerseits für das Wesen der koranischen Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft ein und distanzieren sich daher sei es von der Schia als auch von
den sunnitischen Dynastien der Umayyaden und Abbasiden, weil sie die Politik nicht als Realpolitik sehen, sondern an die Umsetzung der Gerechtigkeit Allahs in dieser Welt glauben
und sich mit allen Mitteln dafür einsetzen, um praktisch das Paradies der Gerechtigkeit Allahs im Diesseits zu antizipieren.
Sie erhoben sich auf diese Weise als ahl al-qibla, wie sie sich selbst nannten, moralisch über die anderen Muslime empor, was wiederum dem Bescheidenheitsideal des Islam vollkommen widerspricht.

 

Video zum Buch (Ausschnitt aus einem Vortrag):